Die Lebensdatenkartei






Joshua Harris, ein zwanzigjähriger junger Mann, berichtet von folgendem Traum:


»Ich befand mich in einem Zimmer, in dem nichts war außer einem Regal
voller Kästen mit Karteikarten.
Sie ähneln den Karten, die man in Büchereien findet,
auf denen Titel, Autor und Sachgebiet alphabetisch aufgelistet sind.
Aber die Kästen hier, die vom Fußboden bis zur Decke reichten
und zur rechten und linken kein Ende nahmen,
waren in ganz unterschiedliche Rubriken eingeteilt.

Als ich mich dem Regal näherte, erregte eine Box mit der Aufschrift
"Mädchen, in die ich verliebt war" meine Aufmerksamkeit.
Ich öffnete den Kasten und begann ein bisschen herumzublättern.
Schnell schlug ich ihn wieder zu.
Erschrocken stellte ich fest, dass mir all die Namen bekannt vorkamen.
Ohne, dass es mir jemand sagen musste, wusste ich genau, wo ich war.
Dieser düstere Raum mit seinen Akten beinhaltete ein Katalogsystem über mein Leben.
Hier war alles aufgeschrieben, Wichtiges und Unwichtiges,
mit allen Details, an die ich mich gar nicht mehr erinnern konnte.

Verwunderung und Neugier überkamen mich gleichzeitig, als ich mit Schaudern anfing,
planlos die Kästchen zu öffnen, um ihren Inhalt zu inspizieren.
Einige brachten Freude und schöne Erinnerungen, bei anderen schämte ich mich so sehr,
dass ich mich vorsichtig umdrehte, um zu sehen, ob mich jemand beobachtete.

Der Kasten "Freunde" stand neben dem Kasten "Freunde, die ich enttäuscht habe".
Die Aufschriften waren zum Teil ganz normal, zum Teil ziemlich absurd.
"Bücher, die ich gelesen habe";
"Lügen, die ich erzählt habe";
"Ermutigungen für andere";
"Witze, über die ich gelacht habe".

Einige waren in ihrer Exaktheit schon fast witzig:
"Worte, die ich meinem Bruder an den Kopf warf".
Über andere konnte ich gar nicht lachen:
"Dinge, die ich aus Wut getan habe";
"Beleidigungen, die ich im stillen meinen Eltern gegenüber aussprach".

Immer wieder war ich über die Inhalte überrascht.
Häufig fand ich viel mehr Karten vor, als ich erwartete,
manchmal weniger, als ich erhoffte.

Die unglaublich Menge der Kästen überwältigte mich.
Konnte es möglich sein, dass ich mit meinen 20 Jahren all diese Karten,
bestimmt Tausende, wenn nicht sogar Millionen, ausgefüllt hatte?
 Jede Karte bestätigte diese Annahme.
Sie wiesen alle meine Handschrift, sogar meine Unterschrift auf.

Der Kasten "Lieder, die ich angehört habe" war viel größer als alle anderen,
fast drei Meter breit.
Die Karten waren eng hintereinander angeordnet.
Ich schloss ihn beschämt, nicht so sehr wegen der Qualität der Musik,
sondern weil ich mir der immensen Zeitverschwendung bewusst wurde,
die diese Rubrik deutlich machte.

Als ich die Aufschrift "erotische Gedanken" entdeckte,
lief mir ein Schauder über den Rücken.
Ich zog den Kasten nur ein Stück heraus, denn ich wollte die Größe gar nicht erst sehen,
und nahm schnell eine Karte heraus.
Innerlich zuckte ich zusammen bei den genauen Angaben darauf.
Mir wurde schlecht, als ich daran dachte, dass auch solche Momente festgehalten waren.

Die Aufschrift eines anderen Kasten lautete:
"Personen, denen ich von Gott erzählt habe".
Die Griff dieses Kästchens war sauberer als die anderen drumherum, neuer, fast unbenutzt.
Ich zog, und ein Kasten nicht länger als ein paar Zentimeter kam zum Vorschein.
Ich konnte die Karten darin an einer Hand abzählen.
Mir kamen die Tränen.
Ich fiel auf die Knie und weinte laut.
Niemand, wirklich niemand darf jemals von diesem Raum erfahren!
Ich muss ihn abschließen und den Schlüssel verstecken.

Dann, als die Tränen versiegt waren, sah ich ihn.
Oh nein, bitte nicht er!
Nicht hier.
Nein, alles, aber bitte nicht Jesus!

Hilflos nahm ich war, dass er die Kästen öffnete und die Karteikarten durchlas.
Als ich mich überwand und ihm ins Gesicht schaute, bemerkte ich,
dass es ihn noch viel mehr schmerzte als mich.
Intuitiv schien er die peinlichsten Kästen herauszunehmen.
Warum musste er jede einzelne Karte lesen?

Schließlich drehte er sich um und sah zu mir herüber.
Mitleid spiegelte sich in seinen Augen.
Ich senkte meinen Kopf, hielt mir die Hände vors Gesicht und fing wieder an zu heulen.
Er kam zu mir und legte den Arm um mich.
Er hätte soviel sagen können - aber er schwieg.
Er weinte mit mir.

Dann stand er auf und ging zurück zu dem Regal.
Er begann an einer Seite des Zimmers, nahm jeden Kasten raus und fing an,
meinen Namen durchzustreichen und ihn mit seinem eigenen zu überschreiben
- auf jeder Karteikarte.

"Nein", schrie ich und rannte zu ihm herüber.
Das einzige, was ich sagen konnte, war "nein, nein", als ich ihm die Karte aus der Hand zog.
Sein Name sollte nicht auf dieser Karte stehen.
Aber da stand er schon, mit blutroter Farbe.
Nur sein Name war zu lesen, Jesus, nicht mehr meiner.
Er hatte mit seinem Blut unterschrieben.

Schweigend nahm er die Karte zurück.
Er lächelte traurig, während er weiter die Karten unterzeichnete.
Ich weiß nicht, wie er das so schnell gemacht hatte,
denn schon im nächsten Augenblick hörte ich den letzten Kasten zuklappen.
Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte:
"Es ist vollbracht".»

Joshua Harris
(leicht gekürzt aus dem Buch: «Ungeküßt - und doch kein Frosch»)

joshharris.com


gefunden auf:
karl-leisner-jugend.de