Es war einmal ein großer,
erhobener Zeigefinger,
der sehr unzufrieden war mit seiner eigenen Situation:
Überall bekamen die Menschen, denen er vorgehalten wurde,
ernste Mienen,
schauten ihn ehrfürchtig an und begannen zu grübeln.
Nur ganz selten begegnete ihm ein freudiges Gesicht,
und der Zeigefinger dachte dann jedes mal, alles sei gar
nicht so schlimm.
Doch es dauerte immer nur einen Augenblick,
dann schauten ihn aus den fröhlichsten Augen betroffene
Blicke an.
Dem erhobenen Zeigefinger gefiel das ganz und gar nicht,
und so begann er, den Menschen vorzuhalten,
dass sie doch fröhlicher sein sollten, nicht immer so ernst
und so verkrampft,
nicht ganz so ehrfürchtig, dafür etwas erlöster.
Und weil die Menschen, die ihm zuhörten, feststellten,
wie wenig fröhlich sie waren, bekamen sie ein schlechtes
Gewissen.
Und wenn der Zeigefinger ihnen erzählte, dass sie doch an
die anderen Menschen
denken sollten und sie mit Fröhlichkeit
und Freude anstecken sollten, schauten sie betroffen zu
Boden.
Je mehr der erhobene Zeigefinger ihnen vorhielt,
dass sie doch eigentlich ganz anders sein müssten, eben
freudiger,
desto mehr verloren sie die Reste an Freude, die noch in
ihnen geblieben war.
Nach einiger Zeit gab der Zeigefinger auf.
«Die Menschen sind nicht mehr zu ändern»,
murmelte er leise und hörte auf, ihnen ins Gewissen zu
reden.
«Vielleicht gibt es die Freude ja gar nicht mehr», dachte er
betrübt.
Der nicht mehr so ganz erhobene Zeigefinger begann,
seine Aufgabe zu vergessen und er bemerkte,
dass er noch andere Fähigkeiten hatte,
als sich zu erheben und Moralpredigten zu halten.
Und um es einfach einmal auszuprobieren,
tat er sich mit einigen anderen Fingern zusammen -
insgesamt waren es zehn, glaube ich - und begann zu
musizieren.
Ganz ohne Absicht, nur aus Spaß an der Musik, ging er nun
ganz in seiner neuen Aufgabe auf.
Und als er gerade mal einen Augenblick Zeit hatte
(sein Nachbar, der Mittelfinger, spielte soeben sein Solo),
da bemerkte er viele aufmerksame Gesichter, die ihm zusahen
und zuhörten.
Und - was er nicht erwartet hatte - auf den Gesichtern
spielte das,
was er immer gepredigt hatte:
Die Freude.
«Also, so was!» pfiff der Zeigefinger und spielte vergnügt
weiter.
A. Tobias